Heute berichte ich von einer Patientin, die mir in unserer Prämedikationsambulanz begegnet ist. Um ein Haar hätte ich sie in die falsche ASA-Kategorie gesteckt und mit schwerer Vorerkrankung zur Operation freigegeben. Dieser Fall hat mir nachdrücklich gezeigt, wie schmal der Grat zwischen „gesund“ und „lebensbedrohlich erkrankt“ sein kann. Und dass es sich lohnt, seinem Patienten immer ganz genau zuzuhören. 

Wie alle Prämed-Sandmänner wissen, bekommt man den ersten klinischen Eindruck eines Patienten meist schon auf den 10 Metern vom Wartebereich ins Ambulanzzimmer. Marschiert der Patient flott und beschwingt zur Türe herein, ist er oft fit und gesund. Kriecht der Patient ächzend und keuchend um die Ecke, ist er oft unfit und ungesund. 

Kurz zur Erinnerung: Die ASA-Klassifikation zur präoperativen Einteilung von Patienten bezüglich ihres Gesundheitszustands.

ASA-Klassifikation (ASA= American Society of Anesthesiologists) zur Einteilung von Patienten bezüglich ihres Gesundheitszustands. Quelle: zmk-aktuell.de

Unsere Patientin war definitiv von der flotten, beschwingten Sorte. Eine fröhliche, freundliche, adrett gekleidete Dame Mitte 60. Auf ihrem Narkose-Fragebogen hatte sie überall “Nein” angekreuzt. Keine Medikamente, keine Vorerkrankungen, keine Voroperationen, keine Allergien. Ein unbeschriebenes ASA 1-Blatt quasi. Täglich geht sie mit dem Hund spazieren, 2 Etagen Treppen steigt sie in ihrem großen Haus auch ohne Probleme. Ich frohlockte innerlich. Eine kurze, knackige Aufklärung. Perfekt. 

Wir besprachen ihre OP (TUR-Blase, niedriges Risiko) und ihre Narkose sowie den ganzen perioperativen Ablauf. Zum Schluss wollte ich sie noch zum Covid-Abstrich und dann nach Hause schicken. 

“Wissen Sie….also irgendwie fehlt mir jetzt aber doch noch das EKG!”, meinte Sie schon in der Tür stehend. Mit dem Flow-Chart “Wann mach ich ein perioperatives EKG und wann nicht” im Hinterkopf erklärte ich, dass wir für die Narkose nur dann ein EKG brauchen, wenn es tatsächlich eine Fragestellung oder eine Vorerkrankung am Herzen gibt. 

“Aber….ich hab ja immer diese Herzattacken!”, sagte meine fitte, beschwingte ASA-1-Patientin.

Moment. Herzattacken?!

Wir setzten uns wieder hin.

“Erzählen Sie mir mehr über Ihre Herzattacken.”, verlangte ich. Vor meinem inneren Auge verblasste das glänzende ASA-1-Sternchen, das ich meiner Patientin bis gerade eben noch verpassen wollte. Natürlich hatte ich sie gefragt, ob sie jemals Atemnot oder Brustschmerzen bei Belastung gehabt hätte („Nein“). 

Und salamischeibchenartig kam die Geschichte ans Licht: 

Seit einem Jahr hatte meine fröhliche, fitte Seniorin typische Angina-Pectoris-Beschwerden. Zuletzt nämlich gestern (gestern!!!), als sie nach einem schönen, langen Abendessen vom warmen Wohnzimmer auf die kalte Straße hinausging, um ihren Hund noch einmal um den Block zu führen. Genau so wie es im Netter aufgemalt ist:

Angina pectoris-Beschwerden. Quelle: NetterImages.com

Ich fragte meine Patientin, wie sich diese „Herzattacken“ anfühlen würden. 

Und sie antwortete lehrbuchgerecht: “Als würde mir ein Stein auf dem Herzen liegen.”

Zwei Mal hatte sie deshalb schon den Notarzt gerufen. Die anderen Male hatte der Herzdruck irgendwie von allein nachgelassen. Zwei Mal hatte der Notarzt sie symptomgerecht in Richtung Herzkatheterlabor transportiert, und zwei Mal hatte es meine fröhliche Seniorin irgendwie geschafft, sich der Behandlung zu entziehen. Weil man im Herzkatheterlabor nicht freundlich zu ihr war, oder weil sie sich emotional irgendwie noch nicht bereit gefühlt hat für eine Herzkatheteruntersuchung. 

Uff. 

Ich schrieb ein EKG. Ich nahm ein großes Labor mit Herzenzymen ab. Ich rief die Kardiologen an, und ich begleitete sie persönlich bis zur Kardio-Ambulanz und ging erst wieder, als sie im Behandlungszimmer verschwand. Dann rief ich die Kollegen der Urologie an und sagte ihre OP ab. 

In den folgenden Tagen beobachtete ich meine Patientin immer wieder über die elektronische Patientenakte aus der Ferne. Als sie endlich ihren RIVA-Stent hatte, war ich erleichtert. 

Learning 1: Wenn ein Patient von sich aus um eine Untersuchung bittet, kann echt was ernstes dahinter stecken. Ganz genau nachfragen lohnt sich!

Learning 2: Die Worte „Atemnot und Brustschmerzen“ hat meine Patientin nicht mit ihren Symptomen „Herzattacke / Stein auf der Brust“ in Einklang gebracht. Vielleicht sollten wir in der Ambulanz gelegentlich unsere eingefahrenen Formulierungen variieren. 

Hattest du auch schon mal eine Patientin oder einen Patienten, der dir fast durchgerutscht wäre? Oder doch gar nicht so gesund war, wie es schien? Ich freue mich auf Kommentare!

Herzliche Grüße,

Frau Sandmann