Diesen Text hatte ich kurz vor Weihnachten geschrieben. Aber mit der allgemeinen Corona-Müdigkeit, den steigenden Infektionszahlen und Ostern vor der Tür scheint er mir aktuell umso passender.
Begleite mich auf einem ganz gewöhnlichen Nachtdienst in einem Haus der Akut- und Regelversorgung.

16 Uhr – Dienstbeginn

Seit ein paar Tagen ist jedes einzelne Bett unserer Intensivstation ausschließlich mit Corona-Patienten belegt. Unsere Covid-Negativen Intensivpatienten werden nun behelfsmäßig im Aufwachraum betreut. Heute Nacht von mir und einem Team aus Anästhesie- und OP-Pflegekräften. Vereinzelt haben diese Pflegekräfte Erfahrung in der Intensivmedizin, zum größten Teil aber nicht. Alle tun eben ihr Bestes. Wir befinden uns im Katastrophenfall. 

Ich bekomme eine lange Übergabe von meiner Kollegin. Sie ist Assistenzärztin im 1. Weiterbildungsjahr, Intensivmedizin sollte in ihrem Weiterbildungsplan noch lange nicht dran sein. Aber wegen des Katastrophenfalls haben wir alle keine Wahl mehr. Sie ist hochkonzentriert, sehr gestresst und hat Angst, etwas falsch gemacht zu haben. Danach baue ich zwei Hämofilter neu auf. Das sind Dialysemaschinen, denn zwei unserer Patienten sind im Nierenversagen. Einer ist beatmet. Alle sind schwerst krank. Alle Pflegekräfte wollen beim Aufbau der Filter dabei sein und etwas lernen. Ihre ungebrochene Motivation haut mich um. Aber das Lehr-Aufbauen von zwei Filtern kostet uns zwei Stunden. 

19 Uhr – Respiratorischer Einbruch

Ich bringe schnell meine Tasche ins Dienstzimmer. Als ich zurückkomme, ist die Sauerstoffsättigung des beamteten Patienten nur noch 76%, das ist viel zu wenig. Die zuständige Pflegekraft steht ratlos daneben und macht einen verzweifelten Eindruck. Wir prüfen den Sauerstoffgehalt im Blut, währenddessen suche ich das Problem an der Beatmungsmaschine, dem Beatmungsschlauch, der Sedierung. Ich finde nichts. Die Blutgasanalyse bestätigt die schlechte Sauerstoffversorgung unseres Patienten. Zum Glück erwische ich meinen Oberarzt noch, er wollte grade vom Parkplatz fahren. 

Mein Telefon klingelt, eine Stationsärztin braucht einen ZVK für einen septischen Patienten. Ich kann ihr nicht helfen, habe selbst alle Hände voll zu tun. 

Zusammen mit meinem Oberarzt bronchoskopiere ich unseren Patienten notfallmäßig, kann viel Sekret aus der Lunge absaugen. Der Patient bekommt wieder Luft. Grade nochmal gut gegangen. 

20:30 Uhr – Kreißsaal

Noch während der Bronchoskopie ruft mich der Kreißsaal an: Eine Patientin braucht einen Periduralkatheter zur Geburt. Es sei dringend, ein Kaiserschnitt stehe im Raum, aber vielleicht kann mit dem PDK noch eine normale Geburt gelingen. Ich bin extrem motiviert, alles für eine normale Geburt zu tun. Denn im Fall eines Kaiserschnitts muss ich zusammen mit einem Anästhesiepfleger unsere Behelfs-Intensivstation verlassen und die Patientin während des Kaiserschnitts betreuen. Das kann mich für ein, zwei Stunden binden. Wer kümmert sich währenddessen um die Intensivpatienten?

Zum Glück gelingt die Anlage des PDK schnell und problemlos. Ich klebe das letzte Pflaster, da klingelt der Schockraum-Alarm. Eigentlich müsste ich meine PDK-Patientin jetzt 30 Minuten überwachen, aber jetzt renne ich zum Schockraum. Die Kollegin mit dem ZVK meldet sich wieder, als ich die Treppen hinuntersprinte. Ich habe keine Zeit. 

21:00 Uhr – Schockraum

Der Notarzt bringt einen verwahrlosten Patienten, der während des Transports reanimationspflichtig wurde. Wahrscheinlich hat er eine Covid-Pneumonie. Eigentlich ist unser Krankenhaus abgemeldet, weil wir keine freien Betten haben. Aber in Notsituationen wie dieser darf uns der Notarzt zwangsbelegen. Wir tragen alle Schutzkittel, FFP-Masken und Visiere. Durch die Masken und Visiere verstehen wir uns schlecht, müssen uns fast anschreien. Wir reanimieren noch eine Dreiviertelstunde und fahren dann mit einem leidlich stabilisierten, beatmeten und hoch katecholaminpflichtigen Patienten durchs CT. Die Intensivstation geht in die Überbelegung und vergibt ein Bett, dass sie pflegerisch eigentlich nicht versorgen kann. Bis wir dort angekommen sind, ist es Mitternacht. Um den Patienten steht es schlecht. Der Intensivarzt ruft die Angehörigen an, sie sollen reinkommen und sich verabschieden. 

00:15 Uhr – Filter und Delir

Ich schmeiße meine Schutzausrüstung in den Müll, wasche mir drei mal gründlich die Hände, ziehe mich einmal komplett frisch an, wünsche mir eine Dusche. Aber statt dessen flitze ich zurück in den Kreißsaal und hoffe, dass dort alles ok ist. Zum Glück ist die Patientin mit dem PDK stabil geblieben, die Hebamme hat gut auf sie aufgepasst. Aber dieser Kaiserschnitt ist immer noch nicht vom Tisch. 

In meinem Intensiv-Aufwachraum begrüßen mich zwei piepsende Hämofilter. Diese Maschinen brauchen viel Zuwendung und Aufmerksamkeit. Sie ziehen das Blut der Patienten durch riesige Zugänge in sich hinein, filtern die nierenpflichtigen Substanzen heraus, und geben das Blut dann zurück. Auf Druckgefälle reagieren sie empfindlich. Wir probieren alle Tricks, lagern die Patienten neu, spülen die Zugänge an, verändern die Betthöhe, switchen die Schenkel, ändern den Blutfluss. Währenddessen wacht ein Patient auf, ist sichtlich verängstigt und sieht Dinge, die nicht da sind. Mit viel Mühe schaffen wir es schließlich, den Patienten und die beiden Hämofilter wieder zu beruhigen. Es ist 02:30 Uhr morgens. Ich esse mein Abendessen. Meine erste Pause in diesem Dienst. 

03:00 Uhr – Schmerzen und Schlaf

Die Station ruft mich an. Ein Patient, dem am Vortag ein Bein amputiert wurde, hat sich versehentlich einen seiner Schmerzkatheter herausgezogen. Ich gehe hin und entferne den Katheterrest, stelle die Laufrate des anderen hoch und ordne mehr Schmerzmittel an.

Immer noch wünsche ich mir eine Dusche, traue mich aber nicht, mir diese 5 Minuten zu nehmen. Es kann ja ständig was passieren. Ich telefoniere mit dem Kreißsaal, der Kaiserschnitt kann immer noch jederzeit akut werden. In voller Bekleidung lege ich mich auf mein Bett und mache kurz die Augen zu. Mein Dienst ist ein Bereitschaftsdienst. Das heißt, der Arbeitgeber geht davon aus, dass ich von den 16 Stunden durchschnittlich nur 4 Stunden arbeiten muss. Entsprechend lächerlich ist auch die Bezahlung. In der Realität aber arbeite ich durch. Für mein Frei am nächsten Tag werden mir Überstunden abgezogen. 

04:00 Uhr – Delir und Visite

Ich fühle mich, als hätte ich vor einer Sekunde die Augen zugemacht, als mich das Telefon wieder weckt. Mein unruhiger Patient von vorhin ist wieder wach. Als ich am Bett ankomme, ist er im Delir. Er keucht, wirft sich hin und her, will aufstehen, zieht an seinen Zugängen. Ein verstörender Anblick, und auf Intensivstationen nicht selten. Zu seinem eigenen Schutz geben wir ihm Medikamente, die ihm die Angst nehmen und den Schlaf anstoßen. Wenn er sich seine Zugänge herauszieht, kann er verbluten. 

Schon wieder klingelt mein Telefon, es ist die Ehefrau eines meiner Intensivpatienten. Sie hat ihren Mann seit 4 Wochen nicht gesehen, weil sie ihn nicht besuchen darf. Vor Sorge kann sie nicht schlafen, sie weint. Ich weiß nicht, womit ich sie trösten soll.

Ich schreibe Verlaufsberichte, drucke die Labore für den nächsten Tag aus, aktualisiere die Arztbriefe, gehe noch einmal eine große Schmerzvisite durchs ganze Haus, bereite meine Übergabe für 07:30 Uhr vor. Ein Hämofilter streikt nun vollends. Wir schaffen es noch, dem Patienten das Blut, das sich in der Maschine befindet, zurückzugeben. Immerhin. 

09:00 Uhr – Dienstende

Ich verlasse das Haus. Ich bin jenseits von müde, mein Kopf ist leer. 

Corona schadet nicht nur den Patienten, die sich infizieren. Corona zieht eine riesige Welle an Kollateralschäden hinter sich her. Jeder einzelne Patient, der jetzt oder in der nahen Zukunft ärztlicher Versorgung bedarf, egal ob mit Covid oder ohne, bekommt das zu spüren. Jeder meiner Patienten in diesem Nachtdienst hat das zu spüren bekommen, für alle war ich nur halb da. Wir verabschieden uns gerade von der individualisierten Spitzenmedizin, die in Deutschland eigentlich Standard ist. Wir machen notfallmäßige Basis- und Behelfsversorgung. Wir tun was wir können, aber uns gehen die Betten, das Material und vor allem die Manpower aus. 

Wenn Corona unser Gesundheitssystem in die Knie zwingt, leiden wir alle darunter. Denk daran, bevor du über die Feiertage kreuz und quer durch die Bundesrepublik reist und alle möglichen Leute besuchst. Denk daran, bevor du einen Flug nach Mallorca buchst. Denk an deinen Opa, der einen schweren Covid-Verlauf wahrscheinlich nicht überleben wird. Denk an deine schwangere Freundin, die ein Krankenhaus braucht, um ihr Baby zur Welt zu bringen. Denk an deinen kleinen Bruder, der ein Krankenhaus braucht, falls er eine Blinddarmentzündung bekommt. Denk an deinen Kumpel, der ein Krankenhaus braucht, falls er einen Autounfall hat. Denk an dich.

Bleib gesund!

Herzliche Grüße,
Frau Sandmann