Die Corona-Pandemie hat die Frage, was wir mit unseren Patienten machen sollen, noch einmal verschärft. Viele Patienten scheuen sich, in die Klinik zu gehen oder lehnen den Transport dorthin rundheraus ab. Und wenn man als Notärztin weiß, dass alle möglichen Zielkliniken eh schon voll sind bis unters Dach, wird man mitunter auch ein wenig großzügiger damit, Patienten an den Hausarzt anzubinden und zu Hause zu lassen.

Dieser Fall hat eindrücklich gezeigt, dass eine gründliche Anamnese und konsequentes Nachfragen dennoch unabdingbar sind. Denn manchmal erscheint ein Fall auf den ersten Blick ganz simpel. Garniert mit ein paar zusätzlichen Informationen wird aus dem „Ach, den lass ich zu Hause“-Patienten aber schnell ein „Den fahr ich schleunigst in die Klinik“-Patient. 

Beginnen wir vorn: 

Sonntagnachmittag, Notarztnachforderung, Meldebild: Hypoglykämie. Beim Eintreffen in der Wohnung war das RTW-Team im Grunde mit der Therapie schon fertig: Der 70jährige Patient, den sie mit GCS 5 und einem BZ von 22 mg/dl auf dem Sofa aufgefunden hatten, hatte inzwischen 8g Glucose i.v. erhalten und war mit einem GCS 15 schon wieder munter. In der BZ-Kontrolle war der Blutzucker adäquat auf 254 mg/dl angestiegen. Der Patient war kreislaufstabil mit einem RR 115/65 und einer HF von 78, die Temperatur war 36,5°C.

Die führende Frage war nun: Was tun mit dem Patienten?

Patient und Ehefrau sprachen wenig Deutsch, der anwesende Sohn konnte aber weiterhelfen. Man wollte wegen Corona eher ungern in die Klinik, morgen habe doch die Hausarztpraxis wieder offen, direkt gegenüber vom Wohnhaus. Dort könne man sich auch vorstellen.
Da der Patient wieder kompensiert schien, und die ärztliche Anbindung gut war, war ich ehrlich gesagt geneigt, dem Wunsch zu entsprechen und ihn daheim zu lassen. Aber wie genau es zu der Hypoglykämie kommen konnte, hat mich doch interessiert. 

Die Ehefrau zeigte mir das Insulinschema, das mir auf den ersten Blick ziemlich streng vorkam. Selbst bei einem BZ von 100mg/dl sollte der Patient 8 IE Insulin Rapid spritzen, was er am Mittag getan hatte. Das Ergebnis war der BZ-Absturz auf 22mg/dl. 

Der Patient war vom Aspekt sehr schlank. Ich wollte wissen, ob er denn heute überhaupt schon was gegessen habe. Seit Tagen würde er kaum essen, er habe keinen Appetit, informierte mich die Ehefrau.

Hm. Appetitlosigkeit ist ja nun eher ein unspezifisches Wischi-Waschi-Symptom. 

Etwas hoffnungslos fragte ich den Patienten: „Und wieso haben Sie keinen Appetit?“ Eine zielführende Antwort erhoffte ich mir ehrlich gesagt nicht. Aber am fehlenden Angebot konnte es kaum liegen: Im ganzen Wohnzimmer verteilt lagen die weihnachtsüblichen Leckereien und Plätzchen. 

Patient: „Wegen Erbrechen.“

Aha. Erbrechen? Darüber hatten wir noch gar nicht gesprochen. 

Ich bohrte weiter nach. Das Erbrechen bestand schon seit 4 Tagen. Vergangenen Donnerstag war man beim Urologen gewesen, der hatte einen Brief und ein Medikament mitgegeben. Am selbigen Abend ging das mit dem Erbrechen los. Auf Nachfragen kramte die Frau Brief und Tablettenschachtel aus der Handtasche. Im Brief stand was von Harnwegsinfekt, die ungeöffnete Schachtel enthielt Fosfomycin. 

Ich: „Aber…die Schachtel ist ja ungeöffnet. Haben Sie das nicht eingenommen?“ 

Die beiden zuckten nur mit den Schultern. Man nehme ja schon so viele Tabletten, es kam Ihnen so vor, als wäre das genug. 

Und so langsam rückten die Puzzleteile dieser Anamnese in eine stimmige Reihenfolge: 

Mein Patient hatte nicht nur eine Hypoglykämie. 

Er hatte einen Harnwegsinfekt, wenn nicht sogar einen beginnende Urosepsis mit Übelkeit und Erbrechen als Folge. Die Hypoglykämie war also nur die Spitze des Eisbergs. 

Und so verwandelte sich mein „Ich lass ihn zuhause“-Patient binnen weniger Minuten in einen „Ich fahr ihn begleitet in die Klinik“-Patient. 

Learning Nr. 1:

Manchmal ist die Hypoglykämie keine allein stehende Diagnose, sondern Zeichen eines tiefer liegenden Problems: Zu strenges Insulinregime, Probleme bei der Nahrungsaufnahme, Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit. Und vor allem diese letzten drei können wiederum Symptome schwerer Grunderkrankungen sein: Infekt, Sepsis, Maligom, Ileus, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, mesenteriale Ischämie, Parasiten…

Learning Nr. 2:

Anamnese kann manchmal echt zäh sein. Bleib trotzdem dran und hake nach, bis du zufrieden bist! Hierbei kann dir das SAMPLER-Schema helfen.

Herzliche Grüße,

Frau Sandmann