Es gibt ja Einsatzkräfte, die schwören Stein und Bein darauf, dass die Menschen bei Vollmond noch ein kleines bisschen verrückter sind als sonst. Bisher hab ich das für esoterischen Humbug gehalten. Bis ich zufällig mal zur Vollmond-Zeit Ambulanzdienst hatte. Zugegeben – das war am Tag und nicht in der Nacht. Aber verrückt war es trotzdem.

Der Tag begann damit, dass ich meine erste Patientin hören konnte, lange bevor ich sie sah. Über den Flur erscholl im 3-Sekunden-Rhythmus das zittrige, aber durchdringende „Haaalloooo…..Haaalloooo“ einer völlig dementen Patientin.

Kleine Bemerkung am Rande: In allen anderen Berufszweigen sind die berühmten drei Worte, die jede Frau hören will, romantischerweise immer noch „Ich liebe dich“. Die drei Worte, die Frau Sandmann in der Prämed hören will, sind „alert, orientiert, einwilligungsfähig“.

Schon nach der Begrüßung war mir klar, dass besagte Dame mir keines meiner drei Lieblingsworte erfüllen würde. Während ich noch überlegte, wie ich am schnellsten einen Betreuer für die Dame aus dem Hut zaubern könnte, begann ich zumindest schon einmal mit einer kurzen klinischen Visite.

„Frau Müller, wie geht es Ihnen?“ – „Haaaallooo…..Haaallooo….“
„Wissen Sie, welcher Tag heute ist?“ – „Jaaa?“
„Gut. Welcher Tag ist denn heute?“ – „Jaaa?“
„Wann haben Sie denn Geburtstag, Frau Müller?“ – „…Jaaa?!“

Als ich die Fragerei schließlich aufgab, und mich nach der Auskultation verabschiedete, produzierte meine Patientin tatsächlich noch einen halbwegs klaren Satz: „Sie! Sie haben mich hier fast erfrieren lassen. Ich werde Sie melden und mich beklagen!“
Wie gesagt – der Tag fing gut an.

In Kabine 2 erwartet mich eine Mutter mit zwei entzückenden Kleinkindern. „Ausgleichende Gerechtigkeit!“, dachte ich frohlockend. „Hier ist garantiert niemand dement.“
Dummerweise gab es aber eine ziemliche Sprachbarriere zu überwinden, und die Mutter und ich quälten uns unter dem Aufgebot unserer sämtlicher Fremdsprachenkenntnisse durch den Aufklärungsbogen. Während wir uns auf 3 Sprachen gleichzeitig unterhielten, wurde es den beiden Kindern zu bunt. Eines begann, zum Zeitvertreib mit dem Fläschchen auf das andere einzudreschen, und im Nu war eine kleine Keilerei im Gange.

Die Mutter beschränkte sich darauf, den Kindern warnende Blicke zuzuwerfen. Der pädagogische Effekt dieser Blicke war gleich Null, und das Gezeter schraubte sich in trommelfellstrapazierende Tonlagen. Um auch irgendwie zu Potte zu kommen, mischte ich mich todesmutig in die Erziehungsmaßnahme ein, und unterzog Kind 1 einer ausgiebigen Auskultation, während ich mit der Mutter die letzten Fragen klärte und sie den Bogen unterschrieb. Uff!

Leicht derangiert machte ich mich auf den Weg auf die Station, um Patient Nummer 3 zu visitieren. Es erwartete mich ein 90jähriger Herr, der frisiert und aufgerüscht in einem ehrfurchtserbietenden Ensemble aus Seidenpyjama und Morgenmantel in seinem Bett thronte.

Er sprach klar, er warf nicht mit Trinkfläschchen um sich: Ich hatte Hoffnung. Bis wir zur Risikoaufklärung gelangten.

Als ehemaliger Startenor vom Herrengesangsverein in Kleinhintertupfingen hatte er größere Angst um seine Stimmbänder als um sein perforiertes Divertikel, und verweigerte die Narkose.

Nachdem ich die Fassung kurzfristig verloren und mühsam wiedergefunden hatte, versuchte ich ihm zu erklären, dass seine Krankheit im Moment durchaus lebensbedrohlich war.
„Kindchen“, sagte er tadelnd zu mir. „Ich hab schon so viel überstanden im Leben. Das bisschen Divertikel bringt mich schon nicht um.“ Sprachs, und sang mir zum Abschied noch
„Abendstille überall“ vor.

Ach wäre es doch schon Abend, und dieser Wahnsinn überstanden.

Herzliche Grüße,

Frau Sandmann